Warum sie statt Künstlerin dann doch Ingenieurin wurde
Das möchte Jaël ändern: Zusammen mit Kolleginnen begeistert sie junge Mädchen für technische Berufe. Bei ewz ist die 28-Jährige unter anderem für Hochspannungsleitungen zuständig.
Trafo 41 – ein Kasten so gross wie eine Autogarage. Kabel dick wie Beine führen hinein, Kabel stark wie Arme kommen heraus. Durch die dicken fliesst Strom mit 150 Kilovolt (kV), die dünneren transportieren Strom mit 22 kV – hinaus in die Stadt Zürich zu weiteren Mittelspannungstransformatoren und schliesslich in unsere Haushalte.
Wir befinden uns im zweiten Untergeschoss des ewz-Unterwerks Oerlikon. Der Transformator Nummer 41 steht gerade nicht unter Strom, ein Gerüst steht davor, zwei Monteure widmen sich dem Gerät. «Wir wechseln die Endverschlüsse aus», sagt die Projektleiterin Jaël Keller. Sie ist Ingenieurin in einem fünfköpfigen Team bei ewz, das für Hochspannungsleitungen zuständig ist. 2019 habe es einen Brand gegeben, erklärt sie. Ausgelöst hatten ihn fehlerhafte Endverschlüsse, diese würden nun ersetzt. Endverschlüsse sind grosse Stecker zwischen Kabel und Transformator, erklärt Jaël.
Die 28-Jährige trägt die Hauptverantwortung für die Reparatur: Sie hat den Auftrag und den Zeitplan erstellt, die Kosten geschätzt, mit den Konstrukteuren die Detailpläne ausgearbeitet, das Material definiert und bestellt und schliesslich den Transformator ausschalten lassen. Jaël blickt auf den Transformator, wechselt ein paar Worte mit den Monteuren, das Telefon klingelt, ruhig beantwortet sie die Fragen eines Monteurs in einem anderen Unterwerk. Es seien falsche Schrauben geliefert worden, sagt sie. «Ich gehe wohl selbst noch vor Ort schauen.». Sie sei oft auf Baustellen unterwegs, auch weil sie dabei immer wieder Neues lerne.
Mehr, aber immer noch zu wenige Frauen in technischen Berufen
Seit rund einem Jahr arbeitet Jaël bei ewz. Nach dem Masterabschluss in Elektrotechnik an der ETH mit einem Praktikum im ABB Hochspannungslabor kam sie direkt ins Team, das sich um die Hochspannungsleitungen in der Stadt Zürich kümmert. Die Ingenieurin ist eine rare Erscheinung in diesem Umfeld.
Zwar sei eine ihrer Vorgängerinnen ebenfalls eine Frau gewesen, aber die Welt der Hochspannung – oder besser: der Technologie allgemein – wird weiterhin als Domäne der Männer wahrgenommen. «In meinem ersten Semester an der ETH hatten wir im Bachelorstudium gerade mal 50 Frauen – umgerechnet 8,9 Prozent.» Das war 2013. Fünf Jahre später, 2018, gab es 14,2 Prozent Bachelorstudentinnen, und im Masterstudium waren es sogar 24 Prozent. Zwar finden immer mehr Frauen den Weg in die Welt der Technik, dennoch seien es noch viel zu wenige, findet Jaël.
Wir sind mittlerweile einen Stock tiefer in den Untergrund des Unterwerks gestiegen. Hier kommen die Kabel von der Aussenwelt herein und winden sich wie dicke, parallele Schlangen durch den Raum, bis sie einen Stock höher in die gasisolierte Schaltanlage steigen. Von dort suchen sie sich den Weg über den Keller zu den Transformatoren. Als dünnere Stränge kommen sie wieder herunter und von hier in die Mittelspannungsschaltzentrale. [Mehr zum Stadtzürcher Stromnetz]
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Es sieht aufgeräumt aus wie bei der Feuerwehr – jeder Strang ist klar bezeichnet, sein Weg klar verfolgbar. Im Unterwerk wird kompromisslos auf Sicherheit geachtet. Geräte, die für den Unterhalt vom Netz genommen werden, sind mit einem Schloss verriegelt, damit niemand versehentlich den Schalter umlegt. Tafeln weisen auf Arbeiten und Schutzmassnahmen hin. Jedes Mal, wenn Jaël ein Unterwerk besucht, meldet sie sich beim Betrieb an und trägt sich in einem Formular ein. Ausserdem tragen wir alle Helme (und aktuell die obligatorischen Gesichtsmasken).
«Meine Aufgabe beinhaltet auch, neue Kabelstrecken zu planen», sagt sie, während sie die Tür zum Schmuckstück des Unterwerks aufschliesst: der ersten gasisolierten Schaltanlage mit einer umweltfreundlichen Gasmischung. In Reih und Glied stehen die Schaltelemente, es sieht ein wenig aus wie im Maschinenraum eines Schiffs. Der verspiegelte Raum kann öffentlich eingesehen werden und wurde vom Künstler Yves Netzhammer gestaltet. [Mehr zu Kunst und Bau]
Kunst oder Hochspannung?
Was uns zu Jaëls zweiter Seite bringt: Sie hätte ebenso gut Künstlerin werden können. Sie absolvierte das Liceo Artistico in Zürich und war nahe daran, in die Fussstapfen ihres malenden Grossvaters zu treten. Wäre da nicht ein naturwissenschaftliches Gen gewesen, das in ihren Zellen wirkte. «Mein Vater ist ebenfalls Elektroingenieur. Beim Abendessen haben wir oft gemeinsam gerechnet – zum Leidwesen meiner Schwester, die dafür kein Flair hat», sagt sie lachend.
Es war Jaëls Physiklehrerin, die ihr den Besuch eines Informationstages an der ETH mit Laborbesuchen ans Herz legte. Sie ging hin und kam am Ende des Tages ins Hochspannungslabor. «Es war eine riesige Halle, in der es blitzte und funkte», erinnert sie sich. Als sie im Labor eine Illustration entdeckte, die den Weg des Stroms vom Kraftwerk bis in die Haushalte zeigte, war es um sie geschehen. Sie wusste: Sie wollte Hochspannungstechnikerin werden und aktiv die Energiewende mitgestalten. Sie begann ein Elektrotechnikstudium an der ETH.
Ganz ohne Widerstand verlief das Studium indessen nicht. Weil sie die Matura an einer Kunst-Kantonsschule absolviert hatte, musste sie in den mathematischen Fächern aufholen. Mit Zweifeln konfrontiert sah sie sich aber nicht deswegen. «Wenn ich erzählte, dass ich Elektrotechnik studiere, machten die Leute grosse Augen. Oft wurde ich gefragt, wie ich denn dazu komme, als Frau Elektrotechnik zu studieren. Meine männlichen Kollegen hingegen mussten ihre Studienwahl nie erklären», sagt sie. Das könne dazu führen, dass man sich selbst hinterfragt.
Aber sie fand Vorbilder, zum Beispiel im Verband Femtec zur Förderung weiblicher Führungskräfte. «Die Frauen haben mich ermutigt, weiterzumachen.» Überhaupt gehören Ermutigungen und Rollenmodelle zu den wichtigsten Faktoren, um Frauen in technischen Berufen zu fördern. Auch Jaël wolle als Vorbild wirken.
So leitete sie beispielsweise die Kommission «Ladies in Mechanical and Electrical Studies», kurz: LIMES. Hier treffen sich Studentinnen zu Frauenabenden, um sich auszutauschen. Ausserdem veranstaltet LIMES regelmässig Einführungstage für Gymnasiastinnen, um sie für die technischen Berufe zu begeistern. Entscheiden sich Frauen für ein Technikstudium, werden sie von LIMES mit einem Mentoring-Programm im Studium unterstützt.
Bei ewz gefällt Jaël unter anderem, dass schon 2015 eine Handvoll engagierter Frauen ein internes Frauennetzwerk gegründet haben – die Anlässe und Vorträge bieten Möglichkeiten, sich abteilungsübergreifend zu vernetzen und voneinander zu lernen.
«Wichtig wäre es aber auch, das Rollenverständnis der Männer in der Gesellschaft weiter zu ändern», sagt Jaël. Sie wünscht sich, dass typische Rollenbilder langsam verschwinden. Nützen würde dabei, wenn sich vermehrt auch Männer für ein tieferes Jobpensum entscheiden würden und sich vermehrt um die Kinderbetreuung und den Haushalt kümmern. Einige von Jaëls Arbeitskollegen bei ewz nutzen beispielsweise bereits ein Teilzeitpensum, um einen Vatertag pro Woche einzulegen.
«Das Ziel sollte aber nicht sein, 50 Prozent Frauenanteil zu haben, sondern zu einem Punkt zu kommen, wo jeder junge Mensch sich ohne Genderbias für einen Beruf entscheiden kann», ergänzt sie. Ihre Vision sei, dass die Frage nach dem Geschlecht in einem Beruf gar nicht mehr gestellt wird.
Jaël Keller,
ewz-Ingenieurin
Blick hinter die Steckdose?
Zu ewz als Arbeitgeber finden Sie auf unserer Karriereseite alle Informationen rund um den Bewerbungsprozess, Porträts unserer Berufsgruppen und alle offenen Positionen.
PS: Wir bei ewz sind überzeugt, dass uns Vielfalt bereichert und weiterbringt. Wir begrüssen Bewerbende aus verschiedenen Kulturen, Generationen, mit unterschiedlichen Werten und Einstellungen. Wir setzen uns auch für die Chancengleichheit jeden Geschlechts sowie jeder sexuellen Orientierung ein.
Sobald es die Corona-bedingte Situation wieder zulässt, sind auch wieder Führungen im Unterwerk Oerlikon möglich.