Reykjavik: 1000 Ideen aus der Bevölkerung
Unsere Bedürfnisse sind in stetem Wandel: Wo braucht es einen Veloweg? Was soll mit dem leer stehenden Gebäude passieren? Die Antworten auf diese Fragen sollten gemeinschaftlich, bestenfalls einfach und schnell erarbeitet werden. Dies ermöglichen sogenannte Civic Technologies, digitale Plattformen, auf denen die Bevölkerung Ideen einreichen und sich aktiv an der Gestaltung des eigenen Quartiers beteiligen kann.
Alle ab 15 Jahren können mitwirken – auch ohne isländischen Pass
Smarte Partizipationsformen im Rahmen des Konzepts Smart City gibt es bereits in vielen europäischen Städten, so etwa in Barcelona. Und während Sie hierzulande erst seit kurzem in aller Munde sind, blickt man nach Island und stellt fest: In Reykjavík wird bereits seit 2012 die Plattform My District verwendet (Sprache oben rechts mit dem Menu-Button umstellbar). Sie funktioniert wie folgt: Im März kann jede Einwohnerin und jeder Einwohner ein Projekt vorschlagen, das umgesetzt werden soll. Danach werden die Vorschläge von der Stadt und vom jeweiligen Bezirksrat geprüft.
Dafür verantwortlich ist unter anderem Sigurlaug Jóhannsdóttir, Beraterin in der städtischen Abteilung für Menschenrechte und Demokratie. «Wir stellen sicher, dass die eingereichten Projekte nicht rechtswidrig sind und das vorgegebene Budget nicht überschreiten», sagt Sigurlaug. Letzteres ist ein zentraler Bestandteil von My District: Um den Prozess möglichst realitätsnah zu gestalten, sind die Einwohnenden darüber informiert, wie viel Budget ihnen zur Verfügung steht. Im letzten Jahr wurden umgerechnet über 3,6 Millionen Franken für die zehn Stadtbezirke gesprochen.
Von Ende Oktober bis Mitte November folgt dann der letzte Schritt: In diesem Zeitraum kann die Bevölkerung gemeinsam über die angenommenen Projekte abstimmen. Stimmberechtigt ist, wer in Reykjavík wohnhaft und mindestens 15 Jahre alt ist. Auch ausländische Bürgerinnen und Bürger können sich am Verfahren beteiligen.
2019 wurden 1053 Ideen eingereicht, 91 werden in diesem Jahr umgesetzt. Dabei können die Personen, die ein angenommenes Projekt vorgeschlagen haben, bei der Umsetzung mitwirken.
Der Prozess erfordere eine offene und transparente Kommunikation zwischen der Bevölkerung und der Verwaltung. «Wenn wir das Projekt einer Nutzerin oder eines Nutzers ablehnen, schreiben wir die Person direkt an und begründen unsere Entscheidung», erklärt Sigurlaug. Der Kontakt zur Bevölkerung sei aber auch dann wichtig, wenn ein Projekt angenommen wurde. «Wir möchten wissen, ob die Entscheidungen den Bedürfnissen der Bewohnerinnen und Bewohner eines Quartiers tatsächlich entsprechen.»
Kommunizieren und Erwartungen managen
Die Anzahl Nutzerinnen und Nutzer auf My District nimmt stetig zu. Dieses Jahr waren es rund 13’500, was 12,5 Prozent der städtischen Bevölkerung entspricht. Besonders hoch sei die Wahlbeteiligung unter den 31- bis 50-Jährigen. «Es ist schwierig, jüngere und ältere Zielgruppen zu mobilisieren», sagt Sigurlaug. Mit ihrem Team besucht sie regelmässig Schulen und Altersheime und sorgt dafür, dass sich die Einwohnenden in Bibliotheken oder auch in Quartierzentren über die Plattform informieren können.
Dieses Jahr wird zum neunten Mal über die Smart-City-Anwendung My District abgestimmt. «Wir lernen immer wieder dazu», fährt Sigurlaug fort. Beispielsweise könne auf der Plattform momentan über Wartungsarbeiten abgestimmt werden. «Aufgrund der Rückmeldungen unserer Nutzerinnen und Nutzer überlegen wir nun, solche Meldungen über eine separate Plattform abzuwickeln. Das wäre effizienter, und die Arbeiten würden nicht unter das Budget der Stadtentwicklung fallen.»
Obwohl jede Einwohnerin und jeder Einwohner eine Idee vorschlagen kann, herrsche dennoch eine gewisse Unzufriedenheit. Die Bevölkerung habe den Eindruck, nur bei kleineren Projekten ein Mitspracherecht zu haben, beispielsweise bei der Wahl von Abfalleimern oder Spielplätzen, aber nicht bei grösseren, einflussreicheren Entscheidungen, die etwa Sanierungs- oder Gentrifizierungsfragen betreffen. «Es gibt auch andere Wege, wie sich die Bevölkerung bei grösseren Themen einbringen kann: bei den nationalen Wahlen oder beim jeweiligen Bezirksrat», sagt Sigurlaug.
Digitale Hilfe für konstruktive Debattenkultur
Ebenso wichtig, wie auf die Befindlichkeit der Bevölkerung zu reagieren, ist die technische Gestaltung des Wahlsystems. Damit beschäftigt sich die Citizens Foundation, die My District entwickelt hat. «Eine grosse Herausforderung bestand darin, konstruktive Diskussionen zu fördern», erklärt Róbert Bjarnason, Mitgründer des Tech-Unternehmens. «Einerseits sollten die Userinnen und User die Möglichkeit haben, ihre Meinung zu einem Projekt zu äussern. Andererseits galt es, das Risiko von Wutkommentaren zu minimieren.»
Dies setzte das Unternehmen wie folgt um: Wird ein Projekt eingereicht, können die Nutzerinnen und Nutzer dafür oder dagegen stimmen, es aber nicht kommentieren. Sind sie mit einem Projekt nicht einverstanden, können sie einen Beitrag auf der Seite posten, der aus einem Pro- und einem Kontra-Argument besteht. «Dadurch werden Kommentare vermieden, die einseitig sind oder eine Person persönlich angreifen», sagt Bjarnason. «Wir hoffen, dass dadurch eine konstruktive Debattenkultur entsteht und sich die Bevölkerung gleichzeitig aus der eigenen Filterblase herauswagt und ein Thema aus einer neuen Perspektive betrachtet.»
Auch die künstliche Intelligenz bringt neue Möglichkeiten mit sich, die Plattform benutzerfreundlicher zu gestalten. Die Inhalte werden automatisch in 25 Sprachen übersetzt, eine Rechtschreibeprüfung im Browser hilft dabei, Argumente zu formulieren. «Zukünftig sollen die Nutzerinnen und Nutzer darüber informiert werden, wenn bereits ein Projekt eingereicht wurde, das dem ihren ähnelt», beschreibt Bjarnason das Feature, das dieses Jahr implementiert werden soll.
Nicht zuletzt war auch die Sicherheit der Plattform ein wichtiges Thema. Die Userinnen und User loggen sich mit ihrer E-Mail-Adresse ein; anhand einer elektronischen Identifizierung wird sichergestellt, dass jede Person nur einmal abstimmen kann.
Programmieren ist einfach – Also auch etwas für Zürich?
Die Plattform wird auch in anderen Ländern genutzt, beispielsweise in Estland, Norwegen und seit Kurzem auch in New Jersey. Die Herausforderungen seien überall ähnlich. «Es ist einfach, solche Plattformen zu programmieren, viel schwieriger ist die Kommunikation zwischen der Bevölkerung und der Stadt», sagt Róbert Bjarnason.
Dem schliesst sich Anna Schindler, die Leiterin der Stadtentwicklung Zürich, an. Auch sie beschäftigt sich mit der Erprobung von smarten Partizipationsformen im Rahmen der Smart-City-Strategie. «Um herauszufinden, wo die Bedürfnisse liegen und welches Tool sich dafür eignet, sind Kommunikation und Erwartungsmanagement zentral: Für uns bedeutet das unter anderem, klar zu definieren, was diejenigen erwarten können, die an Projekten partizipieren, und was nicht», so Schindler.
Derzeit befindet sich die Stadt Zürich in der Evaluierungsphase und testet verschiedene Formate. Im Frühling 2020 wird ein Pilotprojekt mit dem Quartierverein Wipkingen lanciert, das die Möglichkeiten des Participatory Budgeting erprobt. Dabei kann das Quartier darüber entscheiden, für welche lokalen Anliegen ein bestimmtes Budget investiert werden soll. «Aus diesem Grund waren wir auch mit Reykjavík in Kontakt», erklärt Anna Schindler. «Allerdings ist die Plattform nicht unbedingt skalierbar, sondern muss zunächst auf die Bedürfnisse der jeweiligen Stadt zugeschnitten werden.»
Dies erklärt, warum die Nachfrage der Bevölkerung nach gemeinschaftlichen, partizipativen Formaten zwar gross, das Angebot aber noch relativ überschaubar ist. «Solche Plattformen auf die jeweiligen Bedürfnisse zuzuschneiden, ist sehr komplex», sagt Róbert Bjarnason. Dennoch müsse noch viel passieren. «Demokratie hat ein strukturelles Problem. Der Zeitraum, in dem sich gesellschaftliche Veränderungen ereignen, ist viel kürzer, als es noch im letzten Jahrhundert der Fall war.»
Übrigens: powernewz ist rund um das Thema Smart City auf der Suche nach Anwendungsbeispielen – immer konkret, wie hier am Beispiel von Reykjavík. Die Ideen werden in Hintergrundberichten aufgegriffen und anschliessend in das neue Smart-City-Lab der Stadt Zürich eingebracht, in dem ewz ebenfalls vertreten ist.
Und ganz konkret: Für smarte Beteiligungsideen ist eine sichere und ultraschnelle Kommunikation zentral – auch dafür hat ewz das flächendeckende Glasfasernetz in Zürich gebaut. Details unter: zuerinet.ch