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Krisenszenario Strommangel: Die Schweiz übt und lernt

Eine Strommangellage hätte schwerwiegende Folgen für die Schweiz. Ein Massnahmenplan soll das Schlimmste verhindern. Wie übt die Schweiz den Ernstfall? Die Antworten kennt Susanne Weidmann beim Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen.

Laut der letzten nationalen Risikoanalyse des Bundesamts für Bevölkerungsschutz BABS zu Katastrophen und Notlagen besteht in der Verknappung des Stroms über einen längeren Zeitraum eine der grössten Gefahren für die Schweiz [siehe Bericht].

Eine solche Strommangellage, wie sie offiziell genannt wird, würde von allen Krisen den grössten wirtschaftlichen Schaden anrichten – grösser noch als derjenige der Coronapandemie. Deshalb wurde vom Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen (VSE) und im Auftrag des Bundes die Krisenorganisation OSTRAL (Organisation für Stromversorgung in Ausserordentlichen Lagen) ins Leben gerufen.

Sie hat Massnahmen für den Fall einer Mangellage erarbeitet. In diesem Zusammenhang werden aktuell grosse Stromkunden – die Grossverbraucher – angeschrieben. Bei den Massnahmen geht es vor allem um die Aufrechterhaltung der Stromversorgung auf einem reduzierten Niveau: Kann das verfügbare Angebot die Nachfrage nicht mehr decken, muss der Stromverbrauch verringert werden. «Beim Strom geht es um die Balance», sagt Susanne Weidmann, die Leiterin der Fachstelle OSTRAL beim VSE.

Und so viel vorweg: «Grundsätzlich lässt sich sagen, dass das Schweizer Übertragungsnetz zu den stabilsten und sichersten der Welt gehört.» So Markus Imhof, Head of Balancing & Scheduling bei der nationalen Netzgesellschaft Swissgrid.
Mehr zum Thema Versorgungssicherheit erfahren Sie auch im Q&A von ewz.

Nahaufnahme der Freiluftschaltanlagen Auwiesen
Nahaufnahme der Freiluftschaltanlagen Auwiesen
Die Schaltanlagen Castasegna

powernewz: Wie unterscheidet sich eine Mangellage von einem Stromausfall?

Susanne Weidmann: Ein Stromausfall ist ein unerwartetes Ereignis, das von einem lokalen oder regionalen Elektrizitätswerk selbstständig behoben werden kann – ausgelöst zum Beispiel durch einen umgeknickten Strommast. Bei einer Mangellage ist der Strom zwar verfügbar, aber nur noch in einem reduzierten Mass. Eine Strommangellage kann mehrere Tage, Wochen oder Monate dauern, und es kommt schweizweit zu Einschränkungen. Höchstwahrscheinlich wären bei einer Strommangellage auch umliegende europäische Länder betroffen.

Die Unterschiede und Risiken bei Stromausfall, Blackout, Strommangel

Was kann zu einer Stromknappheit führen?

Angenommen wir haben einen kalten Winter und eine «Dunkelflaute» mit wenig Wind und wenig Sonne. Davor hatten wir einen trockenen Frühling und Sommer, die Stauseen sind leer. Zudem sind eines oder mehrere Kernkraftwerke ausser Betrieb. Ein solches Szenario könnte zu einem Strommangel führen. Denkbar wäre auch ein starker Sturm, der das Übertragungsnetz massiv beschädigt und mehrwöchige Reparaturen erfordert, oder eine grossflächige Cyberattacke auf kritische Infrastrukturen.

Worin bestünde die grösste Gefahr von zu wenig Energie?

Die Stromversorgung ist ein Echtzeitsystem: Es muss jederzeit gleich viel Strom zur Verfügung stehen, wie verbraucht wird. Ist das Angebot kleiner als die Nachfrage, muss der Verbrauch reduziert werden. Es geht um die Stabilität des Stromnetzes – um die Balance. Ist diese nicht gegeben, können Blackouts die Folge sein. Stromausfälle müssen wir in jedem Fall vermeiden.

Schaltanlage im Winter

Mit welchen Auswirkungen wäre bei einer Mangellage zu rechnen?

In einer solchen Situation muss vor allem der Stromverbrauch reduziert werden, zum Beispiel könnten Anlagen, die nicht zwingend notwendig sind, stillgelegt werden, etwa Rolltreppen oder Schaufensterbeleuchtungen. In Fabriken würden Produktionsstrassen gestoppt, die weniger wichtige Waren herstellen. Die Fahrpläne des öffentlichen Verkehrs würden ausgedünnt und die Schalteröffnungszeiten von Dienstleistern reduziert.

Welche Massnahmen sind für den Fall einer Strommangellage vorbereitet?

Wenn sich eine Krise abzeichnet, aber noch nicht eingetreten ist, geht zuerst ein Appell an die Bevölkerung, in bestimmten Bereichen weniger Strom zu verbrauchen. Tritt die Krise ein, erlässt der Bundesrat in einem zweiten Schritt Verordnungen. Diese können Verbrauchseinschränkungen und die Kontingentierung von Grossverbrauchern betreffen. Die Ultima Ratio, der letzte Ausweg, sind Netzabschaltungen. Diese sollen möglichst vermieden werden.

Wie kann man sich solche Netzabschaltungen vorstellen?

Es handelt sich um rotierende Teilnetzabschaltungen: So kann beispielsweise der Strom vier Stunden abgeschaltet sein und acht Stunden laufen. In einem zweiten, strengeren Modell wäre der Strom für die Hälfte der Zeit abgeschaltet. Von den Teilnetzabschaltungen sind jedoch nicht ganze Regionen oder einzelne Branchen betroffen, sie sind feiner strukturiert.

[Anmerkung der Redaktion: Ganz im Gegenteil zur kürzlichen Situation in China, wo ab dem 21.09.2021 in bestimmten Regionen immer wieder und teils ohne jegliche Ankündigung der Strom abgeschaltet wurde. Siehe Artikel von Watson]

Kann ich in einem Krisenfall noch mein Handy laden oder den PC benutzen?

Strom soll grundsätzlich verfügbar sein. Je nach Ausmass des Mangels kann man Geräte aber weniger lange benutzen oder nur innerhalb bestimmter Zeitfenster. Der Bundesrat kann mittels einer Verordnung die Verwendung nicht zwingend notwendiger Geräte und Anlagen einschränken oder verbieten, zum Beispiel Heizstrahler, private Saunas oder die Bohrmaschine im Bereich der Heimwerker.

Welcher Bereich wird zuletzt eingeschränkt?

Grundsätzlich sind alle Stromverbraucher gleichermassen betroffen. Für die Grundversorgung relevante Verbrauchergruppen werden jedoch nach Möglichkeit ausgenommen, zum Beispiel Spitäler oder die Wasserversorgung. Für welche Bereiche welche Massnahmen gelten, bestimmen aber situationsbedingt die Verordnungen des Bundesrats. Bei einer gleichzeitigen Pandemie wäre es z. B. denkbar, auch die Produktion von Desinfektionsmitteln aufrechtzuerhalten.

Sind weitere Massnahmen geplant?

Vorbereitet ist auch eine Massnahme zu einer Lenkung des Stromangebots. Im Normalbetrieb bewegen sich Elektrizitätswerke im freien Markt und produzieren Strom gemäss ihren eigenen Plänen und Kriterien der Wirtschaftlichkeit. Bei einer Mangellage tritt eine zentrale Bewirtschaftung in Kraft: Dann bestimmt die Swissgrid als Teil der OSTRAL, welche Stromversorger zu welchem Zeitpunkt wie viel Strom produzieren müssen.

Eine Schaltanlage
Eine Hochspannungsleitung in der Solis Schinschlucht
Ausschnitt einer Schaltanlage vor blauem Himmel

Im Herbst 2021 werden/wurden alle Schweizer Grosskund*innen angeschrieben. Worum geht es dabei?

Wir informieren sie darüber, was eine Strommangellage bedeuten würde, wer bei der Bewältigung eines Krisenfalls mitwirkt, wer die OSTRAL ist und welche Massnahmen in einem Krisenfall geplant sind. Mit dieser Grossverbraucherinformation wird den Stromkunden empfohlen, vorausschauend Vorbereitungen zu treffen, sollte eines Tages eine Strommangellage eintreten.

Wer zählt zu den Grosskund*innen?

Dazu zählen Betriebe mit einem Stromverbrauch über 100’000 Kilowattstunden (kWh) pro Jahr: Das reicht vom KMU, zum Beispiel einem handwerklichen Betrieb, bis zum Grossunternehmen mit Standorten in verschiedenen Regionen des Landes. In der Schweiz verbrauchen über 30’000 Unternehmen jährlich mehr als 100’000 kWh.

Waren bei der Entwicklung der Massnahmen schon Grosskund*innen beteiligt?

In einem Pilotprojekt besuchte OSTRAL eine Auswahl von Grossverbrauchern. Wir wollten wissen, welche Auswirkungen die geplanten Massnahmen für sie hätten. Dabei erhielten wir ein paar interessante Rückmeldungen.

Haben Sie Beispiele?

In einer Forschungseinrichtung würden bei Teilnetzabschaltungen jahrelange Experimente unterbrochen, und die Ergebnisse gingen verloren. Auch existieren Kühlhäuser, deren Statik auf der Kühlung beruht: Tauen sie auf, fehlt die Stabilität des Hauses.

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Leitungen und Strommasten in den Bergen, die über eine Schlucht ragen.

Wie viel Strom kann maximal durch die vorbereiteten Massnahmen eingespart werden?

Wir gehen davon aus, dass man mit Sparappellen etwa 5 Prozent sparen würde. Zusätzliche Verbrauchseinsparungen bringen weitere 10 Prozent, eine verordnete Kontingentierung brächte maximal zusätzliche 15 Prozent. Mit Netzabschaltungen liessen sich insgesamt ca. 50 Prozent sparen. Mit diesen Massnahmen soll ein flächendeckender Stromausfall verhindert werden.

Was bedeutet der Massnahmenplan für Besitzer*innen privater Photovoltaikanlagen?

Bei Netzabschaltungen dürfen Betreiber einer Photovoltaikanlage den Strom weiterhin für sich selber nutzen, wobei allfällige technische Vorgaben des Verteilnetzbetreibers zu berücksichtigen sind. Aber jedes Einspeisen von Strom hilft natürlich, den Versorgungsengpass zu überbrücken.

Wie und wo kann man sich beim Eintreten einer Mangellage informieren?

In einem Krisenfall wird die Öffentlichkeit ähnlich wie bei Corona informiert. Der Bundesrat orientiert über die Lage und die erlassenen Verordnungen. Zum Einsatz kommen die bewährten Medien und zudem die bundeseigene App Alertswiss. Die Kantone und Gemeinden können ergänzende Informationen ausgeben und Grossverbraucher finden Informationen auf der Website von OSTRAL.

Kommunikationskanäle wären also nicht von Stromabschaltungen betroffen?

Kommunikation ist eine der wichtigsten Dienstleistungen. Grundversorgungsrelevante Dienstleistungen bleiben – entsprechend den verordneten Vorgaben des Bundesrats und sofern technisch umsetzbar – so lange wie möglich am Strom.

Zu welchem Zeitpunkt wird OSTRAL aktiv?

Zu dem Zeitpunkt, wo sich eine Mangellage abzeichnet. Wir haben vier Bereitschaftsgrade festgelegt: Stufe 1 bedeutet den Normalfall. Zeichnet sich eine Krise ab, wird Stufe 2 ausgelöst. Dann beginnt OSTRAL mit den Vorbereitungen, aktualisiert zum Beispiel Kontaktlisten und überprüft, ob alle notwendigen Prozesse und Arbeitsmittel einsatzbereit sind.

Hat die Entwicklung der Massnahmenpläne einen Zusammenhang mit der Coronapandemie?

Die Organisation hat schon lange vor Corona den Auftrag für die Grossverbraucherinformation erhalten. Dazu waren verschiedene Vorbereitungsarbeiten erforderlich, zum Beispiel die Massnahme für die Stromkontingentierung bei einer möglichen Mangellage im Detail auszuarbeiten. Wir spüren aber, dass die Sensibilisierung für Ausnahmesituationen seit Corona grösser geworden ist. Vor zwei Jahren hätte man nicht gedacht, dass das Undenkbare eintreten kann. Jetzt schon.

Porträt von Susanne Weidmann
Susanne Weidmann, VSE / Leiterin Fachstelle OSTRAL

Die OSTRAL

Die Organisation für Stromversorgung in Ausserordentlichen Lagen, OSTRAL, wurde vom Verband Schweizerischer Energieversorger (VSE) im Auftrag des Bundes gegründet. Die aktuelle Organisation besteht seit 2011. Hervorgegangen ist die OSTRAL aus der «Kriegsorganisation der Elektrizitätswerke», die vor Jahrzehnten ins Leben gerufen wurde. Die Milizorganisation wird bei einer sich abzeichnenden Strommangellage aktiv, hat aber auch den Auftrag erhalten, vorgängig Massnahmen für den Fall einer längerdauernden Stromverknappung auszuarbeiten. In den Arbeitsgruppen der OSTRAL sind grosse Elektrizitätswerke, wie BKW, Alpiq oder ewz, sowie die nationale Netzgesellschaft Swissgrid vertreten (siehe Organigramm). OSTRAL arbeitet für die Vorbereitung und Umsetzung von Massnahmen im Fall einer Strommangellage auf Anweisung der wirtschaftlichen Landesversorgung des Bundes.

Direktlink zur Information für Grossverbraucher
(Ein Schreiben im Auftrag der OSTRAL wird in Kürze schweizweit von allen Energieversorgern an deren Grosskunden gesendet)

Der beinahe-Blackout vom 8. Januar 2021

Anfang Jahr ist auch Europa nur knapp an einem flächendeckenden Stromausfall vorbeigeschrammt. Markus Imhof erklärt im Swissgrid-Interview klar und verständlich, warum die Schweiz gut gewappnet ist, wie man solche Störungen trainiert und vor welchen Herausforderungen wir stehen. Jetzt lesen!

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